Jeannette Kuos Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im integrierten Design, das gegenwärtige Strukturen, Klima und Kultur in eine ganzheitliche Gestaltung von Gebäuden miteinbezieht. Sie absolvierte ihr Architekturstudium an der U.C. Berkeley (Bachelor of Arts, 1999) und der Harvard Graduate School of Design (Master in Architektur, 2004). Ergänzend schloss sie 2010 einen Master of Advanced Studies an der ETH Zürich ab. Jeannette Kuo lehrte am Harvard GSD (2016-2021), an der EPF Lausanne (2011-2014), dem MIT (2007-2009) und der UC Berkeley (2006-2007). Sie ist Mitgründerin des Züricher Architekturbüros KARAMUK KUO. Die Projekte des Büros sind maßstabs- und typologieübergreifend und reichen von Mehrfamilienhäusern bis hin zu kulturellen Einrichtungen wie dem Augusta Raurica Archaeological Center. KARAMUK KUO arbeitet an der Schnittstelle von Raumkonzepten und Konstruktionstechnologien, um Architektur von ihren grundlegendsten Elementen her zu erfassen. Realisierte Bauten sind unter anderem das Internationale Institut für Sportwissenschaften in Lausanne und das Gymnasium Weiden. Zu den Publikationen gehören die zweibändige Studie über Arbeitsraumtypologien, A-Typical Plan (2013) und Space of Production (2015), sowie die kürzlich erschienene Monografie El Croquis 196 über Karamuk Kuo. Jeannette Kuo ist häufig als Fachjurorin für Wettbewerbe und Preise tätig, zuletzt war sie Vorsitzende des Holcim Award for Sustainable Construction für die Region Europa. Seit Januar 2022 ist Jeannette Kuo Professorin für Architecture and Building Construction.
Interview: Sophia Pritscher
Wie sind Sie zu der Person geworden, die Sie heute sind?
Das Besondere an meinem Werdegang ist, dass meine Identität von vielen Orten geprägt wurde. Ich war immer Teil verschiedener Kulturen und das zur gleichen Zeit: Ich bin als Kind chinesisch-vietnamesischer Eltern in Indonesien aufgewachsen, bin relativ jung in die USA gezogen und führe heute ein Büro in der Schweiz. In den USA habe ich an verschiedenen Küsten gelebt und seither an vielen Orten auf der Welt gearbeitet, unter anderem in Berlin, Griechenland und Chile. Seit 13 Jahren lebe ich nun in Zürich. Ich denke, das hat mir geholfen, verschiedene Perspektiven zu gewinnen, nicht nur in Bezug auf unsere gebaute Umwelt, sondern auch darauf, wie wir als Menschen und Kulturen zusammenkommen. All diese unterschiedlichen Erfahrungen haben meine Herangehensweise an Entwürfe und meine Art Beziehungen zu gestalten tiefgreifend geprägt.
Wie kam es zu Ihrem Interesse an Architektur?
Ich kann mich daran erinnern, dass ich schon früh Schriftstellerin oder Journalistin werden wollte. Als Kind habe ich immer kleine Geschichten geschrieben und sie bebildert. Später wollte ich alle möglichen Berufe ergreifen, aber im Innersten habe ich stets die künstlerische Seite beim Handwerken, Zeichnen und Gestalten genossen. An der Architektur hat mich schließlich fasziniert, dass sie eine Schnittstelle zwischen dem Wissenschaftlichen und dem Humanistischen darstellt. Besonders interessiert mich, wie wir als Menschen und Kulturen zusammenleben und interagieren. Für mich ist die Architektur dem Schreiben insofern ähnlich, weil es in erster Linie um Kommunikation geht. Es ist nur eine andere Form der Kommunikation, da sich Architekt:innen über Raum und Umwelt ausdrücken.
Inwiefern beeinflusst dieser Kommunikationsansatz Ihre Lehre von Architekturstudierenden?
Ich denke, was mich an unserem Beruf fasziniert, ist die Übersetzungsarbeit zwischen dem intellektuellen architektonischen Projekt und der komplexen Realität des Bauprozesses, bei dem so viele Akteur:innen und Anforderungen koordiniert werden müssen. Viele der großen Themen, mit denen wir uns als Architekt:innen auseinandersetzen müssen, würden uns überwältigen wenn wir nicht in der Lage wären, sie zu abstrahieren oder uns mit einer gewissen Distanz kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Dazu gehören möglicherweise auch Konstruktionen und Zusammenhänge, wie wir sie bisher gekannt haben, neu zu überdenken. Zugleich brauchen Entwürfe aber auch Intuition und Fingerspitzengefühl, die sich oft nicht intellektualisieren lassen. Architektur ist schließlich etwas, das die meisten Menschen ohne jegliches Hintergrundwissen erleben. Solche Widersprüche machen unseren Beruf aus: Wie übersetzen wir etwas, das sehr abstrakt ist, in etwas, das sehr physisch ist – etwas, das man erleben, fühlen und auf intuitive Weise nutzen kann? Auf diesem Konzept basiert meine Lehre.
Vermutlich ist dieser Blickwinkel auch bei Ihrer Forschung entscheidend. Was ist Ihr erstes Forschungsprojekt an der TUM?
Unser erstes Forschungsprojekt an der Professur befasst sich mit einem neuen Verständnis der Vorhangfassade. Auslöser für die Idee war der Klimaschutzplan, der 2019 in New York verkündet wurde: Der Green New Deal verbot verglaste Vorhangfassaden in der Stadt. Von dem Zeitpunkt an war es nicht mehr möglich, diese Fassaden zu errichten und alle bestehenden mussten nachgerüstet werden, um effizienter zu sein. Noch nie hat ein Gesetz ein einzelnes architektonisches Element, welches das Erscheinungsbild und die Identität der Stadt wesentlich prägt, so explizit betroffen. Aber das Gesetz hat auch neue Debatten und Fragen aufgeworfen: Die erste hat mit dem Verständnis von Nachhaltigkeit zu tun. Wie können wir in unserem städtischen Umfeld nachhaltig bauen? Wir alle wissen, dass eine vollverglaste Fassade wegen der damit verbundenen Energieprobleme wahrscheinlich die schlechteste Lösung ist. Die Idee dieser hermetischen Hülle wurde Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt. Damals begann man, sich zunehmend auf Technologien zu verlassen, um alle Probleme zu lösen. Tiefe Gebäude und Solarenergie brachten dann technische Kühlungssysteme mit sich, die wiederum dicht verschlossene Fassaden nach sich zogen, nur damit wir mit der optimalen Temperatur den "perfekten Komfort" steuern können. Vieles von dem, was seither geschah, dreht sich um Optimierung und nicht um Umdenken. Aber wie sinnvoll ist eine solche Optimierung, wenn sie auf einer fragwürdigen Grundlage beruht? Die andere Frage, die der neue Green New Deal aufwirft, ist kultureller Natur: Vollverglaste Fassaden sind seit langem ein Symbol des Fortschritts und der Modernität, nach denen auch Entwicklungsländer streben. Oft werden sie in Umgebungen errichtet, in denen sie aus klimatischen Gründen keinen Sinn machen. Sie sind daher auch ein Symbol für Kapitalismus und Kolonialismus, die längst grundsätzlich überdacht werden sollten.
Hat Ihr Konzept der architektonischen Übersetzung Einfluss auf die Herangehensweise? Wie wird das Forschungsprojekt umgesetzt?
Die Fassadengestaltung zu hinterfragen bedeutet auch, dass wir unsere Wertvorstellungen und Machtstrukturen sowie die Ästhetik, die diese fördern, überdenken müssen. Schließlich ist die Fassade ein Ausdrucksmittel, sie ist eine ästhetische Entscheidung, und wir müssen verstehen, was diese Entscheidungen beeinflusst. All diese Fragen kommen in der Fassade zusammen, in diesem einen baulichen Element. An der Professur ergründen wir die Thematik sowohl in Seminaren mit unseren Studierenden als auch durch angewandte Forschung. Außerdem erweitern wir unsere Forschung auf Fragen des Wohlbefindens und der Materialzusammensetzung, bei denen wir auch mit anderen zusammenarbeiten.
Welche Bedeutung haben für Sie die Zusammenarbeit und der Austausch mit anderen?
Kollaborationen und Abstimmungen mit Menschen aus verschiedenen Bereichen sind der Kern der Architektur. Ich glaube, dass der Mythos vom einsamen Architekten als alleinigem Genie, das alles im Griff hat, nie der Realität entsprochen hat. Wir Architekt:innen waren schon immer auf die Zusammenarbeit mit anderen angewiesen. Jedes Projekt ist das Ergebnis von Gesprächen mit Berater:innen, Partner:innen, Ingenieur:innen, Bauherr:innen und Nutzer:innen, die Teil des Prozesses sind, und natürlich mit den Bauunternehmer:innen, die vor Ort tätig sind. Deshalb geht es in der Architektur für mich letztlich immer um Kommunikation und Übersetzung. Es geht darum, wie wir verschiedene Perspektiven und Anforderungen zu einer kohärenten Idee zusammenführen können.
Bleiben wir beim großen Ganzen: Auf welche Veränderung hoffen Sie in der Zukunft?
Ich kann diese Frage mit dem Erwartbarem beantworten, nämlich, dass wir uns mit dem Thema Nachhaltigkeit und Klimawandel auseinandersetzen müssen. Selbstverständlich stehe ich hinter all dem; es sind die Hauptgründe, warum ich diese Professur an der TUM übernommen habe. Aber hinter all dem verbirgt sich auch ein menschliches Grundverständnis bzw. Empathie. Mag sein, dass ich älter werde und dadurch die Dinge aus einem anderen Blickwinkel sehe als damals, als ich 20 Jahre jünger war. Aber ich erlebe gerade eine Zeit, in der es mehr Extreme und mehr persönliche Ausdrucksformen zu geben scheint als echtes Einfühlungsvermögen, was die Grundlage für jede wahrhafte Zusammenarbeit ist. Um echte Gespräche führen zu können, müssen wir in der Lage sein, die andere Seite zu verstehen. Ich denke, davon brauchen wir mehr.