Norman Weik beschäftigt sich mit der Entwicklung innovativer Ansätze für die Planung und Steuerung nutzungsorientierter und leistungsfähiger Schienenverkehrssysteme. Seine Forschungsinteressen liegen an der Schnittstelle von mathematischer Modellbildung und ingenieurtechnischer Anwendung.
Nach dem Studium der Mathematik und Physik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) arbeitete Weik von 2015 bis 2019 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der RWTH Aachen. Dort promovierte er zum Thema Kapazität und Infrastrukturverfügbarkeit von Schienennetzen. Anschließend war er am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) im Institut für Verkehrssystemtechnik in Braunschweig tätig, wo er sich mit der Verbindung von Bahnbetrieb und -technik befasste. 2023 wurde Norman Weik auf die Professur für Planung und Betrieb von Schienenverkehrssystemen an die Technische Universität München (TUM) berufen.
Wie sind Sie zu der Person geworden, die Sie heute sind?
Norman Weik: Es war eine Mischung aus Zufällen und bewussten Entscheidungen. Eine wegweisende Weichenstellung war, dass ich bereits zu Schulzeiten die Möglichkeit hatte, in Karlsruhe ins Mathematik-Studium hineinzuschnuppern. Dadurch war der Weg hin zu einem naturwissenschaftlich-technischen Studium gesetzt.
Später, während der Promotion, habe ich dann den Bogen zur Praxis geschlagen und graphen- und netzwerktheoretische Konzepte zur Modellierung von Unsicherheiten in Transportprozessen aufs Verkehrswesen übertragen. So bin ich zum Eisenbahnwesen gekommen, wo es durch das Zusammenspiel von Fahrzeug, Infrastruktur und Betriebssteuerung eine Vielzahl von Systemkomponenten und unterschiedliche Planungsebenen mit miteinander wechselwirkenden Störfaktoren und Unsicherheiten gibt – das hat mich fasziniert.
Über die Jahre hat sich eine echte Wertschätzung für die Branche entwickelt. Dabei hilft es, eine wohlwollende, aber auch kritische Distanz zu bewahren, um Herausforderungen klar zu erkennen und anzugehen.
Was ist Ihr erstes Forschungsprojekt an der TUM?
Der Schwerpunkt liegt aktuell in der Angebotsplanung der Bahn, mit dem Ziel, besser vorherzusagen, wie sich die Qualität und Robustheit eines Fahrplans entwickeln können. Es geht dabei um die Frage, welche Infrastrukturmaßnahmen – etwa Streckenneubauten – notwendig sind, um langfristig einen stabilen und zuverlässigen Betrieb zu gewährleisten. Wir verbinden hier drei Bereiche, die lange Zeit weitgehend getrennt betrachtet wurden: die Netz- und Infrastrukturplanung sowie die Fahr- und Linienplanung, die sich mit Linienführung, Routenwahl und der zeitlichen Abstimmung von Zugfahrten beschäftigt, und die Betriebsführung, die sicherstellen muss, dass ein einmal festgelegtes Konzept im Alltag robust umgesetzt werden kann. Ein wichtiger Teil mehrerer aktueller Projekte ist, die drei Bereiche durch integrierte Modellierungsansätze und Rückkopplungen stärker zu verknüpfen. Schon in der Netzplanung sollte berücksichtigt werden, welche Fahrplankonzepte später möglich sind und wie stabil sie im Betrieb – auch unter gewissen Unsicherheiten und Störungen - umgesetzt werden können. Nur so kann nachhaltig und zukunftssicher unser Bahnsystem gestaltet werden.
Die Deutsche Bahn wird oft weniger mit Zuverlässigkeit und Innovation verbunden. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen und konkreten Potenziale, das zu ändern?
Die Bahnbranche wird oft als langsam und wenig innovativ wahrgenommen, was aber nicht der Realität entspricht. „Geht nicht“ gibt es (fast) nicht. Im Vergleich zur Automobilindustrie liegen teilweise ganz andere Anforderungen zugrunde: Wir bewegen bei geringer Reibung und hoher Ressourceneffizienz enorme Mengen an Personen und Gütern; hierfür sind eine hohe Sicherheitskultur und kollektive Sicherungsmechanismen entscheidend. So sorgt beispielsweise die Sicherungstechnik dafür, dass kein Signal auf Grün gehen kann, wenn dies einen anderen Zug oder Verkehrsteilnehmer (z.B. am Bahnübergang) gefährden würde. Problematisch ist, dass wir lange nationale Systeme hatten: ICE-Garnituren, die nach Paris, Brüssel und Amsterdam fahren, benötigen heute noch bis zu acht unterschiedliche Zugsicherungssysteme. Deshalb arbeitet Europa an der Harmonisierung mit dem einheitlichen System “ETCS” – ein notwendiger, aber langwieriger Prozess. Gleichzeitig stehen wir vor der Aufgabe, alte, teilweise 100 Jahre alte Stellwerke durch digitale Systeme zu ersetzen, um geänderten Rahmenbedingungen mit deutlich mehr Verkehr zu begegnen und eine zukunftsfähige Infrastruktur zu schaffen.
Für eine höhere Zuverlässigkeit des Betriebs sind – neben einer Ertüchtigung der alternden Infrastruktur – moderne, KI- oder optimierungsbasierte Ansätze ein elementarer Bestandteil. Solche Algorithmen werden bereits heute zur Fahrplanung oder Verspätungsprognose und Entscheidungsunterstützung, welche Züge warten sollen, eingesetzt. Eine Herausforderung ist dabei, dass die Diskriminierungsfreiheit bei der Nutzung der Infrastruktur sichergestellt werden muss: Der Netzbetreiber verwaltet das Netz und steuert den Betrieb, während Verkehrsunternehmen wie die S-Bahn München, DB-Fernverkehr Flixtrain, Agilis oder die Bayerische Regiobahn darauf fahren. Sicherzustellen, dass hier weder im Fahrplan noch im Betrieb Anbieter durch entsprechende Algorithmen mit Black-Box-Charakter benachteiligt werden, bedarf spezieller Algorithmen bzw. neuer Validierungstechniken und -prozesse, um Akzeptanz und Anwendung sicherzustellen.
Wie nehmen Sie die öffentliche Kritik an der Deutschen Bahn wahr?
Kritik ist berechtigt, da der Fahrplan das kommunizierte Aushängeschild und Serviceversprechen der Bahn ist und die Abweichungen mehr als deutlich sind. Was mich aber stört, ist die Härte, mit der oft pauschal Schuld zugewiesen wird, besonders an Mitarbeitenden, die für die strukturellen Probleme meist nichts können. In meiner Rolle sehe ich es als Aufgabe, Verständnis zu schaffen – nicht um Fehlentwicklungen zu verteidigen, sondern um zu erklären und Perspektiven aufzuzeigen: Wenn wir pünktliche Züge mit höherer Taktfrequenz und besserer Erreichbarkeit wollen, brauchen wir Investitionen – beides geht nicht sofort und gleichzeitig.
Wie integrieren Sie Ihre theoretischen Modelle in die Praxis? Arbeiten Sie direkt mit Industriepartnern zusammen?
Grundsätzlich arbeiten wir in zwei Bereichen: Bahntechnik und Betriebs- bzw. Planungsoptimierung. Unser Schwerpunkt liegt aktuell auf Fahrplan- und Betriebsoptimierung, wo wir Modelle und Algorithmen entwickeln, um Prognosen zu verbessern und das Systemverhalten – auch unter Berücksichtigung technischer Innovationen – besser zu verstehen.
Das lässt sich nicht rein theoretisch lösen, deshalb arbeiten wir in einer Kombination aus datengetriebenen und modellbasierten Ansätzen. Hierbei ist die Zusammenarbeit mit Partnern wie der der Deutschen Bahn ein wesentlicher Aspekt, um die Anwendbarkeit unserer Methoden sicherzustellen bzw. gemeinsam praxistaugliche Ansätze zu entwickeln. Zukünftig wollen wir uns an der Professur auch stärker technischen Themen widmen, etwa im Kontext Wartungsoptimierung oder Automatisierung, gerade auch in Kooperation mit anderen Lehrstühlen und Industriepartnern.
Neben Ihrer Forschung und der praktischen Anwendung spielt auch die Lehre eine zentrale Rolle. Was möchten Sie Ihren Studierenden mitgeben – eher Theorie oder Praxis?
Es ist ein Mix, den wir brauchen. In meiner Einführung in den Bahnbetrieb zum Beispiel erkläre ich Grundlagen bzw. Konzepte und ermutige die Studierenden, das Gelernte direkt draußen bei der nächsten Bahnfahrt zu beobachten. Auch die Vor-Ort-Besichtigung von Stellwerken oder Rangieranlagen hilft, einen Eindruck der Prozesse und Dimensionen zu bekommen. Für die Möglichkeit und tatkräftige Unterstützung, um entsprechende Angebote machen zu können, bin ich unseren Partnern hier in der Region sehr dankbar.
Mir ist wichtig, Ingenieur:innen auszubilden, die Schnittstellenkompetenzen mitbringen: Sie sollen das Bahnsystem verstehen, mit methodischen Ansätzen umgehen und mit Spezialist:innen anderer Disziplinen zusammenarbeiten können. Besonders in interdisziplinären Studiengängen wie unserem Masterprogramm ‚Transportation Systems‘ sehe ich hier großes Potenzial.
Auf welche Veränderungen hoffen Sie in der Zukunft?
Ich wünsche mir, dass Planungsentscheidungen weniger emotionalisiert und besser fundiert getroffen werden. Statt in Kategorien wie Autobahn oder Schiene zu denken, sollten wir stärker multimodal planen: für jede Aufgabe das beste Verkehrsmittel oder eine Kombination davon.
Der Schienenverkehr ist dabei unverzichtbar. Mit seiner Energieeffizienz ist er perfekt für große Transportmengen und eine Vielzahl regionaler und überregionaler Verbindungen. Einen Flug wie München–Nürnberg braucht heute wirklich niemand mehr – das ist schneller und nachhaltiger mit der Bahn machbar. Ohne den Öffentlichen Verkehr und die Bahn sind viele Bereiche, von der städtischen Mobilität bis zum Güterverkehr, schlicht nicht zukunftsfähig.