Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat die Energieabhängigkeit Deutschlands offenbart und die Preise für Strom, Tanken und Heizen kräftig steigen lassen. Die politische Diskussion um ein Öl- und Gas-Embargo gegen Russland ist in vollem Gange, alternative Energiequellen werden gesucht. Was ist aus technischer Sicht möglich? Welche Potenziale können kurz- bis mittelfristig genutzt werden und welche Hürden stellen sich bei der Umstellung in den Weg?
Interview: Cornelia Freund
ED: Drei Nachrichten der vergangenen Tage: In der Antarktis ist es 40 Grad wärmer, in der Arktis 30 Grad wärmer als sonst zu dieser Jahreszeit. Deutschlands Emissionen stiegen 2021 – im zweiten Jahr der Corona-Pandemie – um 4,5 Prozent. Die Politik diskutiert ein Embargo fossiler Energien aus Russland und ruft die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas aus. Welche Auswirkungen sehen Sie in diesen Entwicklungen?
Hartmut Spliethoff: Die immer deutlicher werdenden Folgen der Erderwärmung erfordern einen raschen Umbau hin zu einer vollständig erneuerbaren Energieversorgung. Der erforderliche Zeithorizont liegt bei 10 bis 20 Jahren.
Ein Wegfall des russischen Erdgases von heute auf morgen hätte deutliche Auswirkungen auf die Wirtschaft und kann kaum ausgeglichen werden. Es ist sicher nicht damit getan ist, dass man die Wohnung ein bisschen weniger heizt. Die verschiedenen Maßnahmen zur Kompensation benötigen ein bis mehrere Jahre und können zu höheren Treibhausgasemissionen führen.
Die Bayernstudie hat perspektivisch den Ausbau erneuerbarer Energien bis 2040 untersucht. Was kann von wem kurz- bis mittelfristig umgesetzt werden, um die Energieversorgung zu sichern und die Abkehr von fossilen Energiequellen zu fördern? Welche Alternativen zu russischem Erdgas gibt es?
Käme es zu einem Lieferstopp des Erdgases aus Russland, könnten wir den Ausfall durch Steigerung und Ausbau der erneuerbaren Energien kurzfristig nicht kompensieren. Die gute Nachricht ist: Mittel- bis langfristig ist das zu schaffen. Wir hatten mit der Bayernstudie 2021 untersucht, wie eine erneuerbare Energieversorgung in Bayern bis 2040 unter bestimmten Annahmen aussehen kann. Um eine vollständig erneuerbare Energieversorgung zu erreichen, muss insbesondere Windkraft und Photovoltaik enorm ausgebaut werden.
Wenn wir davon ausgehen, dass das russische Erdgas wegfallen würde, gibt es verschiedene Maßnahmen, um dieses zu kompensieren. Eine ist natürlich die Verbrauchsreduzierung, für private Haushalte heißt das, Erdgas einsparen durch Heizung runterdrehen. Die Erfahrung zeigt, dass sich höhere Energiepreise auf das Verbraucherverhalten unmittelbar auswirken. Dann muss man sich bemühen, bei europäischen Nachbarn oder aus anderen Quellen Erdgas zu beziehen.
Für den Import von Flüssiggas fehlt in Deutschland derzeit die Infrastruktur, sodass, soweit möglich, Kapazitäten von Nachbarländern genutzt werden müssten, um das Erdgas dann über Leitungen zu uns zu transportieren. Dabei ist aber auch zu bedenken, dass die Verflüssigung zehn Prozent der Energie des Erdgases benötigt, teurer ist und damit höhere CO2-Emissionen verursacht. Circa 20 Prozent des Erdgases wird derzeit in der Stromerzeugung eingesetzt und könnte durch andere Energieträger ersetzt werden. Langfristig muss dies durch den Ausbau erneuerbarer Energien geschehen, aber kurzfristig gibt es nur die Möglichkeit, Kohle und Kernkraft statt Erdgas zur Stromerzeugung einzusetzen. Die Kohleverstromung wird jedoch zu höheren CO2-Emissionen führen.
Erleben wir ein Comeback von Atomkraft?
In Deutschland sind noch drei Kernkraftwerke in Betrieb, die Ende des Jahres aus dem Netz genommen werden sollen. Ein Weiterbetrieb der noch laufenden Kernkraft verringert den zukünftigen Erdgasverbrauch und ist von daher sinnvoll, er reduziert jedoch nicht den heutigen Erdgasverbrauch. Eine Verlängerung der Laufzeit von Kernkraftwerken ändert nichts am Ziel des Ausstiegs aus Kernkraft. Niemand spricht in Deutschland davon, neue Meiler zu bauen, weil sie viel zu teuer sind. Privatwirtschaftlich rechnen sich heute neue Atomkraftwerke nicht mehr; erneuerbare Energien sind günstiger. International ist zu beobachten, dass viele Länder auf die Kernenergie in der Zukunft setzen, selbst in Japan werden Kernkraftwerke betrieben.
Und dann stellen sich für einen Weiterbetrieb viele Fragen, die die Betreiber beantworten müssen, z.B. ob hoch qualifiziertes Personal und Brennelemente zur Verfügung stehen. Hier wird ein Konsens in Deutschland angetastet, den man nach langen Jahren gefunden hat. Wenn morgen die Erdgasförderung aus Russland stoppen würde, würden mit Sicherheit die Kohlekraftwerke reaktiviert. Bei Kernkraftwerken ist fraglich, inwieweit sich die Politik traut, dieses Thema anzufassen.
Dienen Kohle und Atom als Substitution von Gas auch für Wärme?
Heizungen privater Verbraucher können nicht direkt durch Kohle oder Kernkraft ersetzt werden. Über den Umweg Strom wäre dies möglich, aber auch nicht kurzfristig aufgrund der notwendigen Installation von Elektroheizungen oder Wärmepumpen. Elektrisch betriebene Wärmepumpen sind in der Kombination mit erneuerbarem Strom die Technik der Zukunft.
In der Industrie wird Erdgas als Grundstoff oder für Prozesswärme eingesetzt. Hier ist eine Umstellung auf andere Energieträger noch anspruchsvoller und kurzfristig nicht möglich, sie bräuchte einen Vorlauf von mehreren Jahren. Wenn das russische Erdgas wegbricht, wird es schwierig, und ich teile die Meinung von Herrn Habeck, dass dies gravierende Auswirkungen hat. Allein mit ein bisschen Komfortverzicht ist es nicht getan, und man muss dann an jedem Schräubchen drehen.
Sie gehen in der Bayernstudie von einer Halbierung der Energieverbräuche aus. Strom, Wärme, Mobilität: Welches Potenzial sehen Sie im Energiesparen?
50 Prozent Reduktion ist anspruchsvoll, insgesamt sehe ich ein hohes Potenzial durch Steigerung der Effizienz, da können wir die Verbräuche deutlich reduzieren, in der Industrie wie auch im privaten Sektor, etwa durch Wärmedämmung. Allerdings ist auch das eine langfristige Maßnahme, denn der Gebäudebestand ist nicht auf die Schnelle sanierbar. Bei der Wärme sind wir in der Studie von einer Halbierung des Verbrauches ausgegangen. Bezüglich der Mobilität haben wir in der Bayernstudie die gleiche Fahrleistung wie heute angenommen, durch den Übergang zur Elektromobilität kommt es aufgrund der effizienteren Elektromotoren zu Verbrauchssenkungen. Der Stromverbrauch wird sich allerdings nicht reduzieren, denn er ist der Schlüssel für Effizienz. Wo zum Beispiel eine Regelung zum besseren Steuern eingesetzt wird, braucht es mehr Strom. Wärmepumpen sind die Technologie der Zukunft, um Wärme effizient aus erneuerbarem Strom zu erzeugen. Und dann die Elektromobilität. Wenn man sich Studien von vor fünf Jahren anschaut, ist immer davon ausgegangen worden, dass auch beim Strom der Verbrauch um 20 bis 30 Prozent reduziert werden sollte, was aber nicht realistisch ist.
Insgesamt sind Einsparungen ein absolutes Muss. Das alleine wird aber nicht reichen. Wir müssen die erneuerbaren Energien ausbauen. In der Bayernstudie sind wir von sportlichen Zielen ausgegangen: von einer deutlichen Reduzierung des Energieverbrauchs, vom massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, von größeren Speicherkapazitäten. Und die Industrie benötigt erneuerbare Energieträger, entweder Strom, Wasserstoff oder Biomasse, aber auch die steht nur begrenzt zur Verfügung.
Grau, blau, türkis, grün: Welche Bedeutung kommt Wasserstoff zukünftig zu?
Für die Zukunft steht der grüne Wasserstoff als erneuerbare Energie im Fokus. Als Sekundärenergie ist Wasserstoff gleichzusetzen mit Strom. Wenn ich ihn aus erneuerbaren Quellen erzeuge, habe ich Umwandlungsverluste. Elektrolyse hat einen Wirkungsgrad von 60 bis 70 Prozent, dann wandle ich vielleicht Wasserstoff noch um in einen weiteren Energieträger, der besser genutzt werden kann, zum Beispiel in synthetisches Gas oder Treibstoff für die Luftfahrt. Deshalb benötigt die Kette über Wasserstoff letztlich wesentlich mehr erneuerbare Energie, als wenn ich Strom direkt nutzen kann.
Zukünftig werden wir in Deutschland ein System von erneuerbaren Energien haben: Es dominieren Wind und Photovoltaik, aber auch Wasserkraft, Biomasse und Geothermie werden eine gewisse Rolle spielen. Zu bestimmten Zeiten stehen die Energiemengen nicht zur Verfügung, dann benötigen wir Speicher wie Batterien oder Wasserstoff als chemischer Energieträger. Synthetisches Gas oder flüssiger Treibstoff kann aus Wasserstoff erzeugt und einfacher transportiert und genutzt werden.
Grauer Wasserstoff aus fossilen Energieträgern ist nicht zukunftsfähig. Eine gewisse Übergangslösung bietet der blaue oder türkisfarbene Wasserstoff. Er wird aus fossilen Energieträgern gewonnen, das CO2 wird aber dabei entweder gasförmig oder als fester Kohlenstoff abgeschieden. Das kann durchaus helfen, um schnell den Weg zu einem Wasserstoffsystem zu finden.
Programme laufen in Deutschland an, um Elektrolyse für Wasserstofferzeugung im großen Maßstab zu demonstrieren. Das vorrangige Entwicklungsziel liegt in der Kostenreduktion der Elektrolyseure, und es müssen Infrastrukturen geschaffen werden. Beim Transport geht es darum, Netze zu bauen oder zu ertüchtigen. Auch die Umstellung von Geräten, z.B. Gasturbinen, erfordert Anpassungsbedarf. Der stetige Ausbau des grünen Wasserstoffs benötigt seine Zeit. Das wird nicht in fünf Jahren zu machen sein.
Es ist wichtig, nicht nur eine Lösung zu propagieren, sondern technologieoffen verschiedene Lösungen anzugehen. Das Zieldreieck der Energieversorgung – bestehend aus Umweltverträglichkeit, Versorgungsicherheit und Wirtschaftlichkeit – muss dabei wieder in den Mittelpunkt rücken. Das Ziel der Versorgungssicherheit wurde in den letzten Jahren missachtet, weil man eben allein auf Erdgas als Brückenlösung gesetzt hat. Im Nachhinein betrachtet war das offensichtlich ein Fehler, weil wir uns in starke Abhängigkeiten begeben haben.
Wie können die Schwankungen der wetterabhängigen Energiequellen Wind und Sonne dezentral ausgeglichen werden?
Biomasse, Wasserkraft, Geothermie: Sie sind wertvolle Energieträger, da sie planbar und jederzeit eingesetzt werden können und als Ausgleich dienen, allerdings ist das Potenzial in Deutschland begrenzt. Sonne und Wind werden die höchsten Potenziale zugeschrieben, die es massiv auszubauen gilt. Zum Ausgleich des fluktuierenden Wind- und Solarstromes benötigen wir Speicher. Batteriespeicher eignen sich ausgezeichnet, um in Verbindung mit der Photovoltaik für einen Tag-/Nacht-Ausgleich zu sorgen, Wasserstoff oder synthetische Energieträger sind für den Ausgleich über das Jahr sinnvoll.
Und dann kann man noch diskutieren, welche Mengen an erneuerbarer Energie man zukünftig importieren möchte. Natürlich wollen wir uns nicht in die gleiche Abhängigkeit begeben, in der wir heute stehen. Aber es kann durchaus sinnvoll sein, dass wir in anderen Ländern – Südeuropa, Nordafrika, Australien – mittels Photovoltaik oder solarthermischer Kraftwerke Strom erzeugen, in Wasserstoff und sonstige Treibstoffe umwandeln und hierher importieren. Ein Anteil an Importen ist sinnvoll, weil andere Länder günstigere Rahmenbedingungen bezüglich der Solarenergie haben, die solare Stromerzeugung kostet dort nur die Hälfte. Die Hoffnung besteht darin, dass man zukünftig Wasserstoff günstiger bereitstellen kann als die Preisspitzen, die wir gerade auf den Energiemärkten sehen. Zu den alten Öl- oder Erdgaspreisen werden wir allerdings nicht zurückkommen.
Welche innovativen technischen Lösungen kann die Forschung finden?
Energieforschung erhält durch die aktuelle Situation Rückenwind, und dieser Energieschub ist durchaus positiv. Ein höherer Preis für Energieträger schafft auch neue Möglichkeiten. Für einen Euro können Sie heute noch keinen Diesel-Treibstoff aus Sonnenenergie produzieren, mittel- bis langfristig aber durchaus für 1,50 bis 2 Euro – also unterhalb des Dieselpreises heute an der Tankstelle. Langfristig wird davon ausgegangen, dass das Preisniveau von Wasserstoff auf sechs bis sieben Cent pro Kilowattstunde reduziert werden kann. Hier benötigen wir noch mehr Forschung und Demonstration, um diese Preissenkungen zu erreichen.
Am Lehrstuhl entwickeln wir derzeit ein Konzept, um Biogas in einer Hochtemperaturbrennstoffzelle effizient in Strom mit einem hohen Wirkungsgrad umzuwandeln. Ziel ist, diese elektrochemische Brennstoffzelle reversibel zu betreiben, sprich in Zeiten von Stromüberschuss wandeln wir den Strom in Erdgas um und können dieses Erdgas speichern, in Zeiten von Strommangel wandelt die Zelle das Erdgas wiederum in Strom um. Wir zielen auf einen hohen Wirkungsgrad von 70 bis 75 Prozent in beide Richtungen, wo sonst nur 60 Prozent erreicht werden. Dazu läuft gerade auch eine Ausgründung am Lehrstuhl, um diese Technologie weiterzuentwickeln und zu vermarkten.
Am Lehrstuhl forschen wir neben Hochtemperaturbrennstoffzellen an weiteren Produkten, die aus Wasserstoff erzeugbar sind, z.B. synthetisches Erdgas, Methanol oder Treibstoff für die Luftfahrt. An der TUM bringen wir über die Plattformen wie TUM.Hydrogen und Power-to-X Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen, die auf diesem Gebiet forschen. Das Zukunftslabor Wasserstoff kam vor kurzem dazu, um reversible, elektrochemische Brennstoffzellen, biologische Wasserstofferzeugung und Biomasse als Energiequelle zu untersuchen – ein internationales Projekt, um die Forschung weiterzuentwickeln. Ein weiteres Beispiel ist das Projekt CleanTecCampus, bei dem am Campus der TUM in Garching ein nachhaltiges Konzept erarbeitet wurde, um den Energieverbrauch in den Gebäuden zu reduzieren, beispielsweise durch Photovoltaik auf Dachflächen, aber auch in der Fernwärme lässt sich durch effiziente Wärmepumpen noch einiges tun.
Gibt es in Politik, Industrie und bei Verbraucher:innen mehr Akzeptanz und Veränderungsbereitschaft?
Die Menschen sind sich nicht mehr bewusst, wie notwendig eine unabhängige Energieversorgung ist und dass Energie der Treiber für jegliche Aktivität ist, auch für die Wirtschaft. Wir sehen, dass der Strom aus der Steckdose kommt, aber wie er bereitgestellt wird, interessiert zu wenig. Dafür müssen wir Akzeptanz schaffen.
Zur Person
Die Forschung von Prof. Hartmut Spliethoff zielt auf die Entwicklung des zukünftigen Energiesystems. Schwerpunkte der theoretischen und experimentellen Untersuchungen der zentralen und dezentralen Energiewandlung sind: Energiesystembetrachtungen, thermische regenerative und konventionelle Stromerzeugung, Biomasse, Abfall, chemische und thermische Energiespeicherung und Nutzung von Niedertemperaturwärme.
Nach seinem Maschinenbaustudium an den Universitäten Kaiserslautern und Stuttgart promovierte und habilitierte Spliethoff in Stuttgart. Vor seiner Tätigkeit als Ordinarius an der TUM war er bis 2004 Professor und Lehrstuhlleiter für „Energy Technology“ an der Technischen Universität Delft. Neben der Professur an der TUM ist er Wissenschaftlicher Leiter am Zentrum für angewandte Energieforschung (ZAE Bayern).
Links
Profil von Prof. Hartmut Spliethoff: www.professoren.tum.de/spliethoff-hartmut
Forschungsprojekte am Lehrstuhl: www.epe.ed.tum.de/es/forschung/projekte
Bayernstudie 2021: www.epe.ed.tum.de/es/publikationen/bayernstudie/
Netzwerk Wasserstoff und Power-to-X: TUM.Hydrogen und Power-to-X
Zukunftslabor Wasserstoff: Redefine H2E Hydrogen Economy
Energiesystemoptimierung am Campus Garching der TUM: CleanTechCampus Garching