Kommentar von Riccardo Scandroglio
Bei dieser Hitze beneiden mich viele Leute um meinen Arbeitsplatz, weil die Temperatur hier dauerhaft unter null Grad liegt. Offiziell ist mein Schreibtisch in München, aber einmal im Monat darf ich mein Büro auf die Zugspitze, auf 2.750 Meter Höhe, verlegen, in einen alten, nassen, dunklen und kühlen Stollen - Deutschlands höchstgelegenen Tunnel. Die jetzige starke Hitze hat die Aufmerksamkeit der Bevölkerung wieder auf den Klimawandel gelenkt. Das beste Zeugnis davon gibt die Zugspitze: Kein Gipfel wird so oft besucht und so intensiv beobachtet. Klimaaufzeichnungen des Deutschen Wetterdienstes (DWD) seit 1900 beweisen, dass die Lufttemperatur in den vergangenen 30 Jahren ständig überdurchschnittlich war. Das vergangene Jahrzehnt wurde sogar von Rekordjahren geprägt: 2011 und 2020 waren die wärmsten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, und 2022 verspricht keine Verbesserung der Lage.
In der Praxis war das Unglück an der Marmolata sehr schwer vorhersehbar
Die klimatische Lage in den bayerischen Bergen unterscheidet sich nicht stark von der in den Dolomiten, wo sich am 2. Juli der Gletscherbruch auf der Marmolata mit elf Toten ereignet hat. Dieses Unglück war sicherlich außergewöhnlich. Alle Gletscher bewegen sich langsam bergab, von wenigen bis zu 150 Meter pro Jahr. Es gibt aber Bereiche, die aufgrund vom Geländekanten plötzlich abstürzen können: diese sollten Bergsteiger vermeiden. Der Teil, der sich an der Marmolata in Bewegung gesetzt hat, wurde nicht zu diesen gefährlichen Bereichen gezählt, weil der Auslösemechanismus dieses Mal ein anderer war. Es gibt Messmethoden, die millimetergenaue Bewegungen erkennen können: Dank solcher Frühwarnsysteme können zum Beispiel Straßen rechtzeitig gesperrt werden. Allerdings können diese Warnsysteme aus logistischen und finanziellen Gründen nicht überall aufgebaut werden. Gefahrenbereiche müssen erst identifiziert werden. Das bedeutet: Aufgrund des Stands der Technik wäre das Versagen theoretisch vorhersehbar gewesen, aber in der Praxis war das sehr schwer vorhersehbar, weil die Gefahr unbekannt war. Die Sorgen sind deshalb groß: "Kann so was auch in Deutschland passieren?" Wer im bayerischen Hochgebirge unterwegs ist, kennt den Zustand der lokalen Gletscher. Für die anderen gibt es das Werk: "Zweiter Bayerischer Gletscherbericht" . Es trägt den Titel: "Zukunft ohne Eis". Ich möchte hinzufügen: "... und ohne Schnee?" Die Daten sind eindeutig: Seit Februar 2022 ist kaum mehr Schnee gefallen. Ich sitze im Schneefernerhaus und blicke auf die Reste eines Gletschers, der schon Anfang Juli keine Schneebedeckung mehr hat.
Mehr Hitzetage, schneearme Winter, trockenere Sommer und heftigere Niederschläge sind die Hauptveränderungen, die Meteo-Schweiz für die nächsten Jahre errechnet hat. Die Folgen sieht man: die aktuelle Dürreperiode in Norditalien oder die Flutkatastrophe von 2021. Bei der Berechnung solcher Ereignisse spielt das Wasser eine immer wichtigere Rolle. In Form von Schnee hat es eine oft unterschätzte Schlüsselrolle. Denn das Schmelzen der Schneedecke kann schnell unglaubliche Mengen Wasser produzieren: bis zu 800 Liter am Tag haben wir aus einer einzigen Kluft gemessen. Das war im Juni 2019, und damals lagen mehr als sechs Meter Schnee auf der Zugspitze. In solchen Fällen kann sich Druck aufbauen, wenn sich das Wasser in Klüften oder Spalten aufstaut. Oder unter einem Gletscher. Viele Forscher spekulieren, dass dies mit ein Auslöser für das Marmolata-Unglück gewesen sein kann.
So einiges in der Natur gerät früher oder später aus dem Gleichgewicht
Die Natur können wir als ein sehr komplexes Miteinander mehrerer Elemente sehen, die sich im Gleichgewicht befinden. Manches aber gerät früher oder später aus dem Gleichgewicht. Dazu zählen Hangbewegungen. Störfaktoren können die Eisbildung in Klüften oder ein Erdbeben sein, aber die Randbedingungen werden von der Geologie und der Geomorphologie vorgegeben. Das bedeutet: Ein Gipfel wird nicht für immer spitzig bleiben, irgendwann werden Prozesse wie die Verwitterung seine Form ändern. Angst brauchen wir davor nicht zu haben, Respekt allerdings schon. Daran aber fehlt es oft.
Meine Kollegen und ich arbeiten oft neben Wanderwegen oder bei Hütten. Der Kontakt mit Bergsteigern ist für uns motivierend, aber oft müssen wir feststellen, dass die Leute nicht ausreichend vorbereitet sind. Einige Besucher begehen alpine Routen ohne Plan und Ausrüstung. Das Wissen, wohin man will, entlang welcher Route, wie viel Zeit dafür gebraucht wird, ist wichtig, ebenso der Blick auf das Wetter. In Zukunft wird dies noch wichtiger: Prognose und Entwicklung sollte man immer im Auge behalten. Nichtdestotrotz muss jedem Bergsteiger klar sein, dass ein Restrisiko bleiben wird. Die große Frage aber ist: Häufen sich die Katastrophen in den Bergen tatsächlich oder wird nur mehr darüber berichtet? Der Klimawandel löst eine Änderung des Gleichgewichts in vielen Ökosystemen aus. Die Gefahr wird also allgemein größer. Zugleich erhöhen die intensive Nutzung der Natur und die Zunahme des Bergtourismus die Exposition der Menschen und damit ihre Vulnerabilität. Größere Gefahr plus erhöhte Vulnerabilität bedeuten eine deutliche Zunahme des Risikos.
Deshalb müssen sich die Nutzer hochalpiner Regionen wohl künftig auf ähnliche Szenarien wie auf der Marmolata einstellen. Die gute Nachricht: Wir als Gesellschaft können etwas tun. Erstens mit einem umweltbewussten Lebensstil, damit der Klimawandel langsamer voranschreitet. Zudem sollten mehr Experten im Bereich Naturgefahren ausgebildet, mehr Arbeitsplätze dafür geschaffen und die Entwicklung und Anwendung adäquater Technologien gefördert werden. Nur so können Naturgefahren rechtzeitig erkannt, besser verstanden und bestenfalls vorhergesagt werden.
Profil von Riccardo Scandroglio
Kommentar ursprünglich erschienen in der SZ
Die Sendung mit der Maus - Sachgeschichte zum Thema Permafrost mit Riccardo Scandroglio